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Trauriges:
Bleib' noch einen Tag
Lange
kannte ich dich nicht, (von Kerstin Marx-Möller)
Der einsame Bilbo Bilbo ist tot. Er ist friedlich in meinen Armen eingeschlafen, mit einem Gefühl der Nähe und der Wärme, die er solange vermisst hat. Im Tod sah er ganz jung aus und schön. Ich weine noch jetzt manchmal um ihn. Irgendwie habe ich ihn verstanden. Für ihn war nicht der Hunger und der Schmerz das schlimmste sondern die Einsamkeit. Im Tod hat er einen Menschen gehabt der für ihn da war und deshalb ist er in Frieden gestorben. Er ist immer wieder zu jenem Rasenstück zurückgekommen und hat gewartet, Tag für Tag, genau ein Jahr. Welcher Mensch kann einen alten Freund dermaßen verraten? Als ich ihn das erste mal sah, humpelte er auf drei Beinen die Straße in Cardona herunter. Sein Gang war gequält und ungleichmäßig, sein Körper mit einem zottigen braunen Fell behangen, sein Gesichtsausdruck verzweifelt und ängstlich. Trotzdem hatte sich auf den Weg in die Stadt gemacht, um wohl nach etwas essbaren zu suchen. Ich sah ihn, registrierte ihn als armen alten Streuner und vergaß ihn wieder. Als ich ihn zwei Tage wieder sah, nahm ich mir vor den Hund zu beobachten und ihn zu füttern. Er war ein Bild des Jammers und des Elend. Sein Gang hatte sich verschlechtert und jede Bewegung bedeutete Quälerei. Er wirkte jetzt steifer und noch unbeweglicher. Wo er wohl herkam? Was hatte der Hund für eine Geschichte? Wieder vergaß ich ihn, dann wurde es kalt. Nachts sank die Temperatur weit unter den Gefrierpunkt und ich dachte mehrfach vage an den alten Hund, der nun der Kälte ausgesetzt war. Sicher hatte er großen Hunger. Als ich mit meinen Hunden eines Nachmittags spazieren ging, lag er bewegungslos in der Sonne auf einem ungenutzten Feldstück am Ortsausgang von Cardona. Eigentlich sah ich nur sein zottiges braunes Fell und war überzeugt, dass er tot war. Siedendheiß durchschoss es mich schuldbewusst: hatte ich nicht vorgehabt ihn zu füttern, wie habe ich ihn nur vergessen können? Eingefallen und leblos lag er da. Entsetzt band ich meine Hunde an und trat zu ihm, redete auf ihn ein und hockte mich schließlich zu ihm. Er musste tot sein. Dann aber, als ich die Hand ausstreckte und ihn sanft berührte, zuckte er zusammen und schreckte hoch. Ich sah in ein Paar ängstlicher, verwirrter aber wunderschöner Hundeaugen, hell und klug. Ich redete auf ihn ein und glaubte doch zu wissen, dass er mich nicht hören konnte. Er hatte auf meine Rufe nicht reagiert, wahrscheinlich war er fast taub. "Ich werde dir Futter bringen, das schwöre ich dir!", sagte ich und sagte es zu mir, empört über mich selbst. Ich ging zurück, ohne den Hund angefasst zu haben. Sein Körper war ganz steif und leblos, nur seine Augen sahen mir verwundert nach. Später als es dunkel war, kam ich zurück, doch der Hund war nicht da. Mittlerweile war es klirrend kalt und die Sterne funkelten im schwarzen spanischen Himmel. Ich stellte ihm die Fleischkonserve in einer Aluschale dort hin wo er gelegen hatte, am nächsten Tag gegen Mittag besuchte ich die Stelle wieder. Die Schale war leer und der Hund lag wieder wie tot in der Sonne. Ich dachte er sei über Nacht erfroren, doch als ich mich zu ihm hockte, schreckte er wieder hoch. Ich hielt ihm Hundefutter unter die Nase und er fraß gierig, schlang alles völlig verhungert herunter und sah mich dabei erstaunt und dankbar an. Nun wagte ich auch seinen Kopf zu streicheln und er ließ es geschehen. Dennoch glaubte ich zu fühlen, dass es ihm völlig egal war, ob er gestreichelt wurde oder nicht. Etwas hatte den Hund verlassen, was ich von allen Hunden kannte. Vielleicht war es so etwas wie Hoffnung auf eine bessere Zeit, eine sanfte Hand konnte ihm auch nicht zurückgeben, was er verloren hatte ... Ich nannte den Hund Bilbo. Bilbos Zustand war für mich sehr schrecklich. Eine ganze Woche besuchte ich ihn Tag für Tag, fütterte und streichelte ihn. Wenn er mich kommen sah, begann sein Speichel zu laufen. Also verband er mich mit Futter und Futter war Überleben. Nachts dachte ich daran, dass der arme kranke Kerl schutzlos der Kälte ausgeliefert war, doch ich konnte nichts für ihn tun. Ich wohnte hier im Elternhaus meines Freundes und wir hatten selbst zwei Riesenhunde. Ins Tierheim bringen konnte ich ihn nicht, denn sie nahmen diesen alten kranken Hund sicher nicht auf. Wenn schon so viele junge gesunde Hunde aus der Tötungsstation von Manresa eliminiert wurden ... für den armen Hund wäre es wahrscheinlich gnädiger, eine Todespritze zu bekommen, doch wie sollte ich ihn zur Tierklinik nach Manresa bekommen? Kein Tierarzt würde sich die Mühe machen, ihn auf seinem Wiesenstück zu besuchen um ihn hier zu erlösen. Ich war völlig ratlos. Zu diesem Zeitpunkt hatte Bilbo mein Herz noch nicht wirklich erreicht, genauso wenig wie ich das seine erreicht hatte. Ich hatte großes Mitleid mit ihm und für ihn bedeutete ich Futter und Überleben. Mit meinem Freund besuchte ich am Sonntag den armen Bilbo und er war genauso schockiert von seinem Zustand wie ich. "Wie schrecklich für dich, wenn du jeden Tag damit rechnest, ihn erfroren vorzufinden und wie schrecklich für den Hund, der beißenden Kälte schutzlos ausgeliefert zu sein ... Für ihn wäre es sicherlich besser, erlöst zu sein. Er läuft schon solange hier herum, doch jetzt kann er ja nicht einmal aufstehen. Mein Vater hat ihn dann und wann gefüttert ..." Was sollte ich nur tun? Ich überlegte hin und her und wusste keine Lösung. Am nächsten Tag war es wärmer und dem Hund ging es etwas besser. Er hob den Kopf wenn ich kam und sah mir erwartungsvoll entgegen. Irgendwann musste es ein wunderschöner Hund gewesen sein, ein Collie-Schäferhundmischling mit dichtem langen Fell. Wie alte er wohl war? Wie sah seine Geschichte aus? Am nächsten Tag sah ich vormittags zufällig aus dem Fenster, als Bilbo unten die Straße entlang wankte. Es war schrecklich anzusehen, wie sehr er sich quälte, und doch war er aufgestanden und versuchte auf drei Beinen, die ihm aber auch nicht wirklich gehorchten, zur Innenstadt zu laufen. Aufgeregt griff ich in meine Hundefuttertüte und eilte die Treppe herunter auf die Straße. Bilbo sah mich so verwundert an, daß er sich vor Schreck hinsetzte und auch nicht mehr auf die Beine kam, als ich wieder fort ging. Ich fütterte ihn und er hatte einen Blick im Gesicht, der zwischen Wonne und Fassungslosigkeit hin und her schwankte. Lange sah er mir nach, doch in seinem Blick stand nun auch Wärme und Freundlichkeit. Er schaute noch lange auf das Haus in dem ich wieder verschwunden war, erst viel später schaffte er es, sich zu erheben und weiterzulaufen. Dabei hatte er seinen Körper sowenig unter Kontrolle, daß er immer wieder aus dem Gleichgewicht kam und einmal fast gegen ein fahrendes Auto gefallen wäre. Nur um Bruchteile von Millimetern entging er dessen Rädern, doch der Fahrer bremste nicht. Ich beobachtete den Hund von oben und wandte mich darauf hin ab, da ich das Bild des Leidens einfach nicht länger ertragen konnte. Am Dienstag besuchte ich meine Freundin Heidi, die Vorsitzende des Tierheims Manresa, und erzählte ihr von Bilbo. "Dann laß ihn doch auf Kosten des Tierheims einschläfern!", sagte sie, doch ich schüttelte den Kopf. "Es geht mir nicht um die Kosten, noch bin ich ein Tierarzt um beurteilen zu können, ob man ihm nicht doch helfen könnte. Ich kann ihn nicht zu mir nehmen und wenn ein Tierarzt sagt, es wäre besser ... nun, doch Bilbo ist mein Freund und ich möchte ihm helfen, wenn ihm noch zu helfen ist!" "So dein Freund?", murmelte Heidi und sagte dann bestimmt. "Gut, wir machen folgendes. Du fährst mit ihm zur Tierklinik nach Manresa und bist dafür verantwortlich, was mit ihm weiter passiert. Wenn der Tierarzt noch Rettung sieht, nehmen wir ihn im Tierheim auf. Du sorgst für alle Arztgänge und siehst zu, daß er vermittelt wird. Auch ein alter Hund hat eine Chance, wenn der richtige Besitzer kommt ..." Ich schluckte, damit hatte ich nicht gerechnet. "Aber wenn dieser Hund in der Auffangstation säße, würdest du ihn niemals aufnehmen. Sicher gibt es genug jüngere und ... !", warf ich dagegen. "Er ist alt und war bestimmt einmal ein schöner Hund, doch jetzt ... doch wenn der Tierarzt eine Chance für ihn sehen würde, dann wäre dein Vorschlag wundervoll!" Wir einigten uns auf Freitag. Zwar wusste ich nicht, wie ich Bilbo in meine Auto bekommen sollte, doch ich war plötzlich froher Hoffnung. Vielleicht konnte ihm doch noch geholfen werden ... Meine Freundin Andrea machte mir dann am Mittwoch den tollen Vorschlag, nach Cardona zu kommen und mir bei der Bilbo-Manresafahrt zu helfen. Bilbo ging nun wieder täglich unter größten Qualen gen Cardona. Das wärmere Wetter tat ihm gut und vielleicht stärkte ihn auch das tägliche Futter, daß er nun schon fast zwei Wochen von mir bekam. Je näher aber der Freitag kam, desto mehr Angst ergriff mich. Hatte ich denn das Recht Schicksal für Bilbo zu spielen? Machte ich mir denn wirklich Hoffnungen? Ein Tierarztbesuch würde höchstwahrscheinlich seinen Tod bedeuten. Mir graute und ich hatte Angst davor. Vielleicht war der alte Hund doch irgendwie glücklich in seinem jämmerlichen qualvollen Leben ... Hatte ich wirklich das Recht zu tun, was ich tun wollte? So war ich am Freitag plötzlich glücklich, als Bilbo nicht mittags auf seinem Platz in der Sonne lag. Ich war erleichtert, sicher hatte ich nicht das recht "es" zu tun. Ich hatte in einem Stück Fleisch ein Beruhigungsmittel verpackt, das wollte ich ihm geben, bevor Andrea kam. Als ich aber ein paar Schritte weiter ging, sah ich Bilbo an einer anderen Stelle liegen. Ich gab ihm also das Fleisch und er fraß es. So würde alles seinen Lauf nehmen ... Als aber Andrea da war um mit Bilbo seine wahrscheinlich letzte Fahrt anzutreten, war Bilbo fort. Wir suchten ihn bestimmt eine Stunde überall. Statt dessen hatte irgend jemand eine Schale mit ganz viel Fressen, Fleisch, Nudeln, Fisch und Knochen hingestellt, ich war erstaunt. Also gab es noch einen anderen Bilbofreund, doch wo war Bilbo? Schließlich stiegen Andrea und ich auf einen keinen Berg hinter Bilbos Wiese. Von dort sahen wir ihn. Er lag zusammengekauert am Straßenrand und zwei Frauen standen bei ihm. Zuerst wussten wir nicht, was wir machen sollten, dann gingen wir etwas ratlos zu dem Hund und den Frauen, bis wir sahen, dass eine der Frauen ihn mit dem Essen fütterte, was wir zuvor entdeckt hatten. Eigentlich war es uns nicht recht, dass wir Zeugen hatten, denn wir fühlten uns beide unwohl, hin und her gerissen. Die Frau sagte, sie würde den Hund, den sie Chicco nannte, schon seit einem Jahr kennen. Sicher war er hier an der Stelle von seinem alten Besitzer ausgesetzt worden und wartete seitdem auf ihn. Sie würde ihn füttern, denn früher wäre er ein bildschöner Hund gewesen. So einen schönen Hund hätte es in Cardona selten gegeben, ja, sicherlich hatte die Frau recht. Ich wusste, daß Bilbo früher wunderschön gewesen war und ich wußte von seinem Schmerz, denn sein Herr hatte ihn ausgesetzt als er für ihn unbrauchbar und wertlos geworden war. Er hatte eine treue Hundeseele verraten, als der Hund ihm im Alter gebraucht hätte. Seitdem wartete der Hund ergeben in Liebe an jener Stelle, an der er noch immer bei allem Leid Hoffnung hegte, bewusst oder unbewusst, seinen Herrn wiederzutreffen. Die beiden Menschen, die an dem alten Streuner hingen, waren da, als Bilbo in mein Auto gehoben wurde. Zuvor hatte er eine wundervolle Portion Essen bekommen. Plötzlich hielten zwei Autos und mehrere Menschen kamen hinzu. "Was macht man denn für einen Aufstand um die alte Töle!", sagte eine Frau empört, "für den wäre es doch besser, wenn man ihm mit einem Knüppel eins vor den Kopf hauen würde ..." "Wie kannst du so etwas sagen", sagte die Frau, die Bilbo wohl auch gefüttert hatte. Wir sagten, dass wir Bilbo zum Tierarzt nach Manresa fahren würden und anschließend ins Tierheim bringen würden. Etwas anderes hätte die Frau auch nicht verstanden, wir fühlten uns noch unwohler. Ich fühlte mich schließlich ganz miserabel, als Bilbo in meinem Auto jämmerlich weinte. Mit seiner alten rauhen Stimme wimmerte er völlig verzweifelt und mir stachen die Tränen in die Augen. Die Fahrt dauerte eine dreiviertel Stunde, dann parkten wir mit unseren Autos vor der Tierklinik. Unsere Hunde blieben in Andreas Auto, wir trugen Bilbo zu zweit in die Praxisräume, wo man uns entsetzt einen getrennten Raum zuwies, Bilbo sah zu schrecklich aus in den Augen der anderen Hundebesitzer. Auf dem Boden brach Bilbo in aller Verzweiflung und Angst zusammen. Er zitterte wie Espenlaub und keine tröstende Hand drang bis zu ihm vor. Ich weinte um ihn, weil ich nun sicher war, dass er gleich getötet werden würde. Hatte ich es wirklich richtig gemacht ihn hierher zu bringen, hatte ich das Recht dazu? Und doch dachte ich daran, dass er viele Flöhe hat und er sie wahrscheinlich in mein Auto verbreitet hatte, das er stank und daran, dass meine Hunde sich vielleicht von ihm Krankheiten holen könnten. Ich dachte an mich und nicht an Bilbos verzweifelte Gefühle. Erst später wurde mir das so richtig bewusst, erst dann, als sich zwischen ihm und mir etwas änderte. Als der Arzt ihn untersuchte, nahm er sich sehr viel Zeit für den Hund. Er sagte, er habe Arthrose, die seinen Körper zerstört hätte. Bilbo war ungefähr 13 Jahre alt. Um seinen wirklichen Zustand zu erkennen, musste Bilbo geröntgt werden und ich schöpfte Hoffnung. Ich wollte nur das beste für ihn und wenn es Hoffnung gab, wollte ich sie für ihn. Irgendwann machte es in mir "Klick". Es geschah auf dem Röntgentisch, denn bei Bilbo geschah dasselbe, es war eine Reaktion, die uns mit dem anderen verband. Es war sehr merkwürdig. Bilbo wurde dem Mann übergeben und ich musste zurücktreten, sah aber zu wie sie "meinen" alten Hund auf dem Tisch drehten und verrenkten. Bilbo wimmerte wie im Auto und sah flehend zu mir, wie ich flehend zu ihm sah. Unser Blick traf sich und wir trösteten uns. Bilbo war zusammen von mir und dem Arzt ins Röntgenzimmer getragen worden. Als er mit der Tortur fertig war, trat ich völlig aufgelöst zu ihm und er wurde auf der Stelle ruhig. Ich umarmte ihn heftig und er drückte sich voller Liebe an mich. Mir war es plötzlich egal, ob er Flöhe hatte und ihm war meine Nähe und Wärme mehr als alles. Beide wurden wir ruhig. Nun trug ich ihn allein ins Behandlungszimmer zurück und legte ihn zärtlich auf den Tisch. Plötzlich war er "mein" Hund wie ich "sein" Mensch war und beide wussten wir dies. Er hatte einen Menschen bekommen und ich einen dritten Hund! Dieses Wissen war wundervoll. Meine Hand hatte Bilbo nichts bedeutet, nun bedeutete sie ihm alles. Unter meiner Hand war er ganz ruhig und zärtlich drückte er sich dagegen, wie ich ihn fest umschlungen hielt, auf ihn einredet, streichelte und liebkoste. Ich wollte das beste für ihn und wenn es der Tod war, wollte ich auch ihn. Bilbo wusste dies und wusste, daß ich gut für ihn entscheiden würde. Er überließ sich mir ganz, war völlig entspannt und wurde von Minute zu Minute glücklicher. Er war nicht länger allein, er hatte seinen Menschen bekommen der für ihn da war und ihm gut wollte. Eine halbe Stunde warteten wir auf das Röntgenbild, doch Bilbo war der glücklichste Hund der Welt. In meinen Armen genoss er Wärme und Liebe, die er ganz in sich aufnahm und auf mich ausstrahlte. Das Ergebnis des Röntgenbildes war grausam. Er musste schreckliche Schmerzen erlitten haben und würde bei jedem Atemzug seines Lebens weitere Schmerzen erleiden. Seine Hüfte war völlig zerstört, keine Tabletten und keine Operation konnte ihm noch helfen. Ich bat den Arzt ihn zu erlösen. Bilbo starb schnell in meinen Armen, völlig entspannt und mit einem glücklichen Gesicht. Er sah aus wie ein junger Hund und wie ein Hund, der geliebt wurde. Und er starb als ein Hund, der geliebt wurde, denn ich liebte ihn von ganzen Herzen. Als meine Tränen auf seine gebrochenen Augen tropften, spielte es keine Rolle, ob ich richtig gehandelt hatte oder nicht, für Bilbo war es richtig gewesen, weil ich diese Entscheidung für ihn getroffen hatte. Erst viel später in der Nacht wusste ich plötzlich, dass das, was den Hund umgebracht hatte, nicht Hunger, Schmerz und Krankheit gewesen waren, sondern die Einsamkeit. Er war der einsamste Hund der Welt gewesen und er war glücklich gestorben, weil er Nähe, Wärme und Liebe gespürt hatte, ja, Liebe! (von Ina Erwien)
Der Herr der Straßen
Mac war
mittelgroß, senffarben und mager. Wenn man überhaupt etwas an ihm schön
nennen konnte, waren es seine großen, braunen Augen. Er hatte gleich bei
unserer ersten Begegnung, in einer Straße, die durch die Bananenplantagen
führte, von mir Besitz ergriffen, und dagegen war nichts zu machen. So
einfach ging das. Ich hatte keine Erfahrung mit Hunden und war mächtig
stolz auf die Tatsache, dass so ein richtig wilder Straßenköter mich
akzeptierte und nicht mehr von meiner Seite wich. Es gibt Dutzende von
diesen herrenlosen Hunden auf La Gomera, und sie ernähren sich von
Abfällen und der Mildtätigkeit einiger weniger Touristen, die es auf diese
felsige Kanareninsel vor der Küste Marokkos verschlägt. Von den
Einheimischen werden sie geprügelt, gesteinigt und mit Schrotflinten
abgeknallt. Eine richtige Erklärung für so viel Hass konnte man mir nicht
geben, man sagte einfach, die Mistviecher würden Krankheiten übertragen.
Wenn Zuneigung eine Krankheit ist, dann hätte Mac mich tatsächlich
infiziert. Eigentlich hieß er gar nicht Mac, sein richtiger Name war Seine
Ehrenwerte Merkwürden James First Earl of Mc Gregor, aber das ging
natürlich nicht, war zu lang. Ich hatte ihn so getauft, weil er sich
irgendwie englisch-schottisch vornehm gab. Sein Auftreten war bestimmt und
selbstbewusst, aber dabei von vornehmer Zurückhaltung. Nie war er
aufdringlich, er bettelte nicht und nervte mich nicht mit krankhaften
Macken, wie unsere überzüchteten Hunde sie gerne haben. Wenn ich morgens
aus Dona Marias Pension kam, musste ich keine drei Schritte gehen, um
nicht mehr allein zu sein. Mac stand vor mir, sprang an mir hoch, wedelte
mit seinem dünnen Schwanz und biss mir zart in die Hand. Ich habe nie
herausgefunden, wo er seine Nächte verbrachte, aber es muss in meiner Nähe
gewesen sein. Ihn mitzunehmen in die Pension war ausgeschlossen, ich habe
bei Dona Maria mal vorsichtig angefragt, und sie hat ihre dicken Arme in
ihre dicken Hüften gestemmt und mich für verrückt erklärt. "Ihr Deutschen
seid alle verrückt mit den Hunden, ihr nehmt sie wie Kinder." "Schon gut,
Dona Maria, vergessen wir's." Es hätte keinen Zweck gehabt, ihr zu
erklären, dass dieser gelbe, magere Köter mein Kumpel und Partner war, sie
hätte es nicht verstanden. Irgendwie waren wir uns ja auch ähnlich, und
das muss er gefühlt haben, als er mich aussuchte. Wir waren beide Streuner,
lebten von der Pfote ins Maul und hatten nirgendwo Kredit. Wenn er morgens
neben mir hertrabte, mit seiner stillen unaufdringlichen Erwartung in
seinen großen, braunen Augen, waren wir sicher ein Pärchen, das die
Einheimischen ohne große Freude sahen. Unser erster Halt war der
Lebensmittelladen, eine kleine düstere Bude, in der es seltsamerweise nach
Pferden und dem Schweiß des alten Besitzers roch. Mac ist nie mit
reingekommen, er blieb immer an der Tür sitzen, den Blick auf die Straße
gerichtet. Ich kaufte ihm etwas Gutes und gab es ihm in einer stillen
Ecke, ich wollte die Leute nicht unnötig provozieren. Er verschlang es
nicht, wie wilde Hunde es sonst zu tun pflegen, er verspeiste es in aller
Ruhe, und ich ließ ihn mit seinem Frühstück allein. Später, auf dem Weg
zum Strand, war er wieder da, aufgetaucht wie aus dem Nichts, und trabte
zufrieden vor mir her. Wenn uns Leute begegneten, erkannte er sofort,
selbst auf größere Entfernung, ob es Insulaner oder Touristen Ware. Bei
Insulanern stoppte er abrupt seinen Trab, kehrte zurück und hielt sich
dicht neben mir. Er blickte dann kurz zu mir auf, und ich sagte: "Alles
okay, Alter, mach Dir keine Sorgen." Er verstand immer, was ich ihm sagte.
Am Strand lag er neben mir, die Schnauze flach auf den gekreuzten Pfoten
und blinzelte träge in die Sonne. Mitunter fühlte ich eine Bewegung neben
mir oder hörte ein leises Knurren, und dann wusste ich, dass irgendjemand
sich uns näherte. Das duldete Mac nicht, der Platz, an dem wir lagerten,
gehörte uns, um uns herum gab es eine Art Bannmeile, in die niemand
hineintreten durfte, kein Mensch und kein Tier. Die endgültige
Entscheidung hierüber lag aber bei mir, und wenn ich entschieden hatte,
dass man sich uns nähern durfte, legte der Platzherr sich wieder in den
Sand und beobachtete still das Geschehen. Selbst bei Hunden, die uns
besuchen kamen, verhielt er sich ähnlich, er akzeptierte fast immer meine
Entscheidungen, und wenn er einmal aufbegehrte, ließ ich ihn gewähren, er
hatte sicher seine Gründe, und die waren wohl, so wie ich ihn einschätze,
sicher sehr vernünftig. Und schließlich wollte ich ja auch keinen Sklaven
oder ewigen Ja-Sager zum Partner. Sein Selbstbewusstsein verstärkte sich
proportional zu dem Fett, das er langsam ansetzte. Was nicht heißen soll,
dass er fett wurde, er war nur nicht mehr so mager, die Rippen stachen
nicht mehr so durch die Haut, und sein zerzaustes Fell wurde glatt und
bekam einen sanften Glanz. Wir waren schon ein feines Pärchen. (von Hans Herbst)
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