Anka´s letzter Traum

Durch das Blätterdach zaubert die Sonne ein faszinierendes Licht- und Schattenspiel auf den Waldboden. Im
 Zickzackkurs läuft ein blaugrau gefärbter Kleiber kopfvoran einen dicken Eichenstamm hinunter. Eifrig sucht er in
 den Ritzen und Spalten der Borke nach Käfer und Raupen. Plötzlich erstarrt er in der Bewegung: eine kleine Regung
 am Fuße des Stammes weckt sein Interesse. Neugierig mustern seine braunen Augen das große schwarze Etwas. 

 Anka liegt zusammengerollt auf der Erde und döst vor sich hin. Eine vorwitzige Hummel hat sich auf ihrem Behang
 niedergelassen. Das Zucken, das die Aufmerksamkeit des Kleibers erregte, überzeugt das Insekt, sich einen
 ruhigeren Landeplatz zu suchen. Geduldig wartet die Hündin. 

 In der Nacht war ihre Familie aufgebrochen, um zu Etwas zu fahren, das sie `Urlaub´ nannten. Anka wußte nicht,
 was `Urlaub´ war, aber sie fuhr sehr gerne Auto. Als Rudolf, so wurde das Familienoberhaupt genannt, gegen
 Morgen anhielt und mit ihr in den Wald ging, war sie schon fast ein bißchen mit ihm ausgesöhnt. Nicht, das Rudolf
 böse zu ihr war! Doch seit Anka vor gut einem halben Jahr zu ihrer neuen Familie kam, spürte sie, das Rudolf sie
 nicht sonderlich mochte. Besonders, wenn er bei schlechtem Wetter mit ihr Gassi gehen sollte. Fast im Dauerlauf
 zog er sie über die `Hundewiese´ im Park. Nicht einmal in Ruhe lösen konnte sie sich. Von dem Aufnehmen und
 Sortieren der Gerüche ganz zu schweigen. So kam es, daß sich Anka die meiste Zeit in ihrem Körbchen und in den
 Träumen von vergangenen Tagen verkroch. Von den Wäldern und Wiesen, die sie mit ihrem früheren Herrchen
 durchstreifte! Die so herrlich nach Wildtieren dufteten. Davon war ihr nur noch die Hundewiese geblieben, die nach
 den Hinterlassenschaften der vielen Hunde des Viertels roch. Und das kleine Häuschen auf dem Lande mit dem
 großen Garten war einem Reihenhaus mit Terrasse in der Stadt gewichen. 

 Mit all dem hätte sich Anka noch abfinden können, wenn sie in ihrem jetzigen Zuhause die Liebe und Anerkennung
 gefunden hätte, die sie von ihrem alten Herrchen gewohnt war. Am Anfang, als sie nach dem Tod ihres Herrchens
 zu der neuen Familie gekommen war, hatte es sich ganz gut angelassen. Ewald, das jüngste Familienmitglied tollte
 nach der Schule viel mit ihr auf der Hundewiese herum. Bis ihm Etwas, das er `Fußballspielen´ und
 `Skateboardfahren´ nannte, wichtiger wurde. Auch Silke nahm sie oft mit zu ihren Freundinnen und Anka genoß die
 Streicheleinheiten, die ihr die Mädchen mit manchem Leckerbissen zukommen ließen. Aber in der letzten Zeit war
 Silke nur noch kurz da. Meistens holte sie ein Junge ab, der mit ihr in die `Disco´ ging. Und Frauchen, die Tochter
 ihres alten Herrchens, hatte ebenfalls nicht viel Zeit für sie. Halbtags ging sie alleine weg, ‚arbeiten‘ nannte sie es.
 Und nachmittags machte sie den Haushalt. 

 Heute schien es jedoch wie in alten Zeiten zu werden. Nach der stundenlangen Autofahrt hatte Rudolf angehalten
 und sie in diesen Wald geführt. Hier ist ihr alles vertraut: der Geruch von verrottendem Laub und Harz, der Duft
 von Reh, Sau und Fuchs. Anka konnte gar nicht genug Gerüche aufnehmen. Als Rudolf sie schließlich mit dem
 Kommando `Platz´ ablegte und festband, war auch dies für sie nicht ungewöhnlich. Auch ihr früheres Herrchen
 hatte sie öfters abgelegt. Manchmal, nach einem Schuß, hatte er sie abgeholt. 
 „Auf, altes Mädchen, es gibt Arbeit für dich“, hatte er sie dann begrüßt. 
 Anka wußte, was er von ihr erwartete. Eifrig hatte sie sich in den Riemen gelegt und ihn zu dem beschossenen Wild
 geführt. Was war das für eine Freude, wenn sie von ihrem Herrchen gelobt wurde und von dem noch warmen Fleisch
 einen kleinen Happen bekam. In der Erinnerung daran, klopft ihre Stummelrute leicht auf den Waldboden. Vielleicht
 wird nun doch alles gut?!! 

 Eine Schule Eichelhäher hat sie entdeckt und läßt sich in dem Geäst der umstehenden Bäumen nieder. Schimpfend
 alarmieren sie den restlichen Wald über den neuen Bewohner. Verärgert schaut Anka auf. Es sind wirklich lästige
 Gesellen. Aus Erfahrung weiß sie, daß Nichtbeachtung das Interesse der Häher bald auf etwas Neues lenken würde.
 

 Die Sonne steigt höher. Anka legt sich auf die Seite und streckt sich aus. In der hochsommerlichen Hitze bekommt
 sie allmählich Durst. Aber Rudolf wird sicher bald zurückkommen. 

 Am späten Nachmittag setzt sie sich auf und sucht den Wald mit den Augen ab. Eichhörnchen huschen keckernd im
 wilden Spiel die Stämme hoch und herunter. Eine Straße der roten Waldameisen verläuft in ihrer Nähe und die
 tausendfachen Schritte der fleißigen Insekten lassen leise das trockene Laub vom Vorjahr rascheln. Eine Brise trägt
 ihr das ständige Rauschen der viel befahrenen Autobahn zu. Sie hebt ihre Nase in den Wind. Neben dem schwachen
 Geruch der Autoabgase, dem kräftigen Geruch des Waldes, nimmt Anka den süßen, verführerischen Duft von
 Rehwild wahr. Aufgeregt trippelt sie mit den Vorderpfoten. Von Rudolf sieht sie nichts! Langsam wird ihr Durst
 unerträglich. Mit einem Seufzer rollt sie sich wieder zusammen. 

 Mit Einbruch der Nacht kommen die Stechmücken. Gierig umschwirren sie Ankas Kopf. Stechen sie in die dünn
 behaarten Stellen. 

 In der Nacht nimmt sie den stechenden Geruch von Schwarzwild auf. Wachsam beobachtet Anka die dunklen
 Schatten. Sie weiß aus Erfahrung, daß das gefährliche Gegner sind. Grunzend, den Boden mit ihrem Gebrech auf
 der Suche nach Eicheln und Würmern umpflügend, kommen sie näher. Plötzlich verharren sie. Der schwache
 Sommerwind hat ihnen den Geruch des Hundes zugetragen. War es nur Vorsicht, oder der Menschengeruch, der
 noch an Anka haftet? Mit einem warnenden Blasen und lautem Quieken schlagen sie die entgegengesetzte Richtung
 ein. 

 Bei Sonnenaufgang zerrt Anka an der Leine! Das Leder gibt nicht nach. Wütend schnappt sie danach. Doch sie
 erinnert sich an den Klaps, den sie von ihrem früheren Herrchen bekam, als sie es als Welpe versuchte. Unruhig
 läuft sie in dem ihr verbleibenden Spielraum hin und her. 

 Schon zeitig brennt die Sonne herunter. Selbst das Blätterdach des Waldes kann die Hitze nicht lange abhalten.
 Um die Mittagszeit hört Anka menschliche Stimmen. Die Sehnsucht nach Gesellschaft und der Durst lassen sie nun
 doch die Leine durchbeißen. Im Galopp rennt sie den Weg zurück, den sie mit Rudolf gekommen war. Auf dem
 Parkplatz steht der Wagen einer Familie, die gerade Rast macht. Es ist nicht ihre Familie! Verunsichert bleibt Anka
 stehen. 
 „Papa, schau‘ mal, ein Hund“, ruft ein kleines Mädchen, als es Anka entdeckt. 
 Der Geruch von belegten Broten und Eier lassen Anka das Wasser im Maul zusammenlaufen. Speichel tropft
 herunter. 
 „Geh‘ nicht hin“, ermahnt der Mann das Kind. „Vielleicht ist er krank und beißt!“ 
 Er nimmt einen Stock auf. 
 „Los, geh weg! Husch, verschwinde!“ 
 Langsam geht Anka einige Schritte rückwärts und bleibt wieder unschlüssig stehen. Der Mann nimmt eine leere
 Coladose und wirft sie nach ihr. Erschreckt jault Anka auf und springt zurück in den Wald. Erst als sie Wasser
 riecht, hält sie an und folgt dem Geruch. Sie findet eine Suhle. Gierig schlabbert sie die schlammige, warme Brühe
 und kühlt sich ab. Ihr Durst ist nun gestillt, nun meldet sich der Hunger. Sie streift durch den Wald. Die frische
 Fährte eines Fuchses sticht ihr in die Nase. Jagdeifer packt sie. Spurlaut folgt Anka dem Geruch. Aufgeschreckt
 flitzt der rote Freibeuter durch den Wald. Am Rande einer Lichtung hat sie ihn eingeholt. Gekonnt greift sie ihn.
 Zwei, drei Mal schlägt noch die buschige Lunte, dann haucht er sein Leben aus. 

 Kurz verschnauft Anka neben ihrer Beute, ehe sie den Fuchs aufnimmt. Stolz tritt sie mit ihm auf die Lichtung
 hinaus. Wie würde sie von Herrchen gelobt werden! Doch Herrchen ist nicht da! Wem soll sie den Fuchs bringen?
 Ratlos läuft sie einige Schritte in verschiedene Richtungen. Dann legt sie den Fuchs auf den Boden, bewindet ihn
 nochmals, ehe sie gedrückt in den Wald zurückkehrt. 

 Anka ahnt nicht, daß sie beobachtet wurde. 

 Auch am kommenden Tag findet sie nichts Freßbares. Ein Rehbock springt vor ihr ab. Für einen kurzen Moment will
 sie ihn jagen, aber Herrchen hatte es ihr verboten. 

 Die Nacht verbringt sie wieder am Fuße der Eiche, an der noch die Reste der Leine hängen. 

 Am Morgen würgt sie der Hunger. Anka spürt, wie sie immer schwächer wird. Heute muß sie etwas zum Fressen
 finden, sonst wird sie verhungern. Vormittags macht sie einen Hasen hoch, der sich in seiner Sasse sonnt. Etwas
 später, nach einem gewaltigen, gesprungenen Haken, hat sie seine Spur verloren. Verbissen sucht Anka, bis sie die
 Fährte wiederfindet. Weiter geht die wilde Hatz! Langsam verliert der Hase an Kraft und Anka holt auf. Mit einem
 riesigen Satz fängt ihn Anka. Durch ihren Schwung überschlägt sie sich mit ihrer Beute. Heißhungrig macht sie sich
 über den Hasen her. Vergessen sind die Verbote ihres Herrn. Das warme Fleisch bedeutet Überleben! 

 In den nächsten Wochen entwickelt sich Anka zu einem sehr geschickten Jäger. Rehe, Hasen, Kaninchen und
 Fasanen werden ihre Beute. Selten geht sie hungrig schlafen. Gelegentlich träumt sie noch von ihrem ersten Herrn.
 Spürt dabei, wie er sanft ihren Kopf krault, kräftig den Rücken kratzt, ihr die lästigen Zecken absammelt.
 Manchmal träumt sie auch, wie er nach dem Gewehr greift, nach ihr pfeift und sie ihn in das Revier begleitet. 

 Wieder einmal streift sie durch den Wald. Sie spürt nur einen harten Schlag, der sie zur Seite wirft. Kraftlos
 bewegt sie noch ihre Beine. Die braunen Augen verschleiern sich, als sie erst leise, dann immer lauter die Stimme
 ihres vertrauten Herrchens hört. 
 „Komm‘ Anka! Auf altes Mädchen, es geht wieder raus ins Revier!“ 
 Und sie sieht ihn, wie er nach ihrer Leine und seinem Gewehr greift. Freudig bellt sie ihm zu und umspringt ihn. Sie
 wird ihm folgen, so wie sie es immer getan hat! So ist es gut! 

 Traurig schaut der Mann auf den Hund. Es war einmal eine schöne, schwarze Drahthaar-Hündin gewesen. Jetzt ist
 ihr Fell lehmverkrustet, ungepflegt und voller Zecken. Tiefes Mitleid mit der armen Kreatur und Wut auf die
 Menschen, die sie zu so einem Leben verdammt haben, überfallen ihn. Nie wird er den Anblick vergessen, wie sie
 stolz den Fuchs apportierte! Und niemand war da, der sich mit ihr freute! Aber ebensowenig kann er den Anblick
 des gerissenen Wildes vergessen, das er gefunden hat. 
 „Wenigstens hab‘ ich dich nicht unnötig leiden lassen“, murmelt er leise, während er ihr noch einmal über den edlen
 Kopf streicht. 

 Langsam macht er sich an die Arbeit und hebt eine Grube aus. Hier, im Wald, ist der richtige Platz für den letzten
Schlaf eines guten Jagdhundes.